Dasha

"Für mich ist Zuhause kein Platz, sondern ein Gefühl."

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Was war dein erstes, gefühltes «Zuhause»?

Als ich meinen Freund traf. Für mich ist «Zuhause» kein Platz, sondern ein Gefühl. Dann, wenn du dich sicher fühlst. Wenn du weisst, dass alles deiner Persönlichkeit in Ordnung ist. Wenn jemand, alle Seiten von dir akzeptiert und du gemeinsam über alle Themen der Welt reden kannst. Für mich ist mein Zuhause eine Person, mein Freund. Mit ihm komme ich überall heim. In den Ferien, in unserer Wohnung in Kiew, egal an welchem Ort der Welt.

Dasha

Was hat es zu deinem Zuhause gemacht?

Wenn du dich ruhig und geerdet fühlst. Wenn du mit jemandem über alles reden kannst und diese Person dich versteht. Es geht nicht um gutes Design, ein schönes Haus – alle diese materiellen Aspekte. Es geht ganz einfach nur um Trost. Der Moment, wenn du mit jemandem Schweigen kannst und in der Stille sitzen, ohne darüber nachdenken zu müssen, was noch zu sagen wäre. Das Gefühl der Sicherheit und Ruhe.

Welches ist deine klarste Erinnerung daran?

Ich habe viele glückliche Momente mit ihm. Aber gerade jetzt in diesem Moment erinnere ich mich an den Tag, als ich Auf Wiedersehen sagen sollte und ihn verlassen musste. Wir übernachteten in einem sehr schäbigen Hotel, es war sehr kalt. In diesem Moment habe ich realisiert, dass diese Person einfach in mein Leben gekommen ist. Sie war nicht Teil meiner Familie oder vorhergehenden Geschichte, sondern ist einfach dazugekommen und hat alles verändert. Vielleicht ist es unsere Psyche, die uns in Momenten des Abschieds umso klarer vor Augen führt, wie wichtig eine Person für das eigene Befinden sein kann.

Ich habe ihn genau vor mir, diesen Moment, indem wir in diesem schrecklichen Hotel waren und ich ihn verlassen musste. Wir lagen im Bett, ich begann zu weinen und er hielt seine Tränen ebenfalls zurück. In diesem Moment war ich so weit davon entfernt eine schöne Frau zu sein, aber das war total egal. Wir lagen einfach so da, in der Stille und starrten gemeinsam an die Decke. Dann weinten wir wieder und hielten uns in den Armen. Es war unsere kleine Ewigkeit.

Wieso ist sie hängen geblieben?

Vielleicht ist es meine klarste Erinnerung, weil ich in diesem Moment so viele verschiedene Emotionen fühlte. Ich liebe ihn so sehr. Diese grenzenlose Liebe für diesen Menschen und gleichzeitig diese Schuldgefühle. Ich fühlte mich schuldig, ihn zu verlassen. Dann wieder eine Welle an Zukunftsängsten - Vielleicht werden wir einmal eine Familie gründen, so wie wir es uns über Monate gemeinsam ausmalten. Aber jetzt ist nicht die Zeit dazu. Wird sie jemals kommen?

Ich habe realisiert: Diese Person ist ein Teil von dir. Ohne sie bist du nicht komplett. Und das, obwohl sie noch gar nicht lange Teil deines Lebens ist.

Welche Geräusche, verbindest du mit diesem ersten «Zuhause»?

Dasha

Die Geräusche unserer Katze. Wenn sie zu uns kam, hat sie mit den Pfoten immer abwechslungsweise auf unseren Bäuchen getappt und dazu genüsslich geschnurrt.

Für mich ist das das Geräusch von «Zuhause» und Ruhe. Vielleicht sogar das Geräusch guter Beziehungen. Einfach im Bett zu liegen, nur das Schnurren einer Katze und das Atmen der Person zu hören, die ich liebe.

"Jetzt lebe ich nur im Moment, weil das Morgen nicht existiert."

- Dasha

Vermisst du dieses «Zuhause»?

Ich denke ich vermisse diese Momente, in denen du keine Angst hast. Weil jetzt – natürlich kannte ich das Gefühl der Angst auch zuvor. Jede*r hat einmal Angst. Aber jetzt hat dieses Gefühl der Angst eine viel echtere Dimension erhalten.

Telegram und FaceTime helfen uns beiden, verbunden zu bleiben und uns gegenseitig zu beruhigen. Aber ich vermisse die Zeiten, in denen wir im Bett lagen und unser zukünftiges Leben ausmalten. Heiraten, Kinder kriegen – weil als ukrainisches Mädchen, denkt man sehr oft darüber nach (schmunzelt). Man fragt sich gemeinsam, was ist mein Ziel/meine Destination in diesem Leben? Was ist der Sinn meines Lebens?

Das Gefühl, wenn eine Umarmung dir alle schlechten Gedanken nimmt. So dass du frei wirst, an die Zukunft zu denken. So dass du dir alle möglichen Fragen stellen kannst, weil du keine Angst vor den Antworten haben musst. Was werde ich lernen? Wo werde ich hingehen? Wie wird mein Leben weitergehen?

Jetzt lebe ich nur im Moment, weil das Morgen nicht existiert.

Wieso bist du fortgegangen?

Um ehrlich zu sein, weil ich eine sehr ängstliche und sensible Person bin. Ich kann sehr müde werden, wenn ich an unbekannten Orten mit vielen unbekannten Menschen und lauten Geräuschen bin. Als Person bin ich ein wenig introvertiert.

Als der Krieg startete, reagierte ich nicht wie eine normale Person. Ich lebte mit der Familie meines Freundes. Sie reagierten stets sehr ruhig und rational: «Okay es ist eine Bombe. Jetzt beginnt es, aber alles wird gut». Aber jedes Mal, wenn ich die Sirenen oder Bomben hörte, flüchtete ich in die Korridore. Da es dort keine Fenster hat, ist es der sicherste Ort in der Wohnung. Auch wenn er in Wahrheit nicht wirklich schützt. Dort kauerte ich mich zu Boden.

Die Mutter meines Freundes versuchte mich dann jeweils zu beruhigen und meinte, es sei alles nicht so schlimm. Aber ich reagierte wie ein Tier. In diesem Moment war ich unfähig, klar zu denken oder handeln. Die Wucht an Angst quetschte meinen Körper zusammen. Ich dachte nur an den Tod. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es weitergehen wird. Vielleicht wird der Krieg bald enden, vielleicht wird er aber weitergehen und immer schlimmer werden. Ich malte mir die schlimmsten Szenarien aus.

Dasha

Meine Ururgrossmutter wurde von russischen Soldaten vergewaltigt. Meine Grossmutter war das Kind, das aus diesem Übergriff herausging. Meine Ururgrossmutter war eine sehr starke Frau. Klein und dünn, aber sehr stark. Sie hatte diese Wut in sich. Ich hatte oft Angst vor ihr. Die Beziehung meiner Grossmutter zu ihrer Mutter war sehr schlecht. Als ich diese Geschichte erfuhr, verstand ich wieso. Plötzlich fürchtete ich, das Eintreffen solcher Ereignisse.

Mein Kopf funktioniert so. Ich beginne über alle schlimmen Szenarien nachzudenken, während die anderen viel ruhiger damit umgehen. Ich versuchte mich zusammenzureissen. Ich sagte zu mir selbst: «Okay Dasha, du kannst essen, du kannst zur Toilette gehen.» Aber ich war wie gelähmt. Ich wollte etwas tun für mein Land und die Situation, aber in diesem Zustand konnte ich nicht weiterleben. Da realisierte ich, wenn ich weggehe und in Sicherheit bin, kann ich besser helfen. Ich kann wieder geben, das Leben fühlen. Das eigene Leben wie auf Pause gedrückt zu erleben, hilft niemandem. Weder meinem Freund, meiner Familie, meinen Klient*innen noch mir. Aber viele meiner Freund*innen blieben allgemein viel gefasster und konnten besser mit dieser Art von Situation umgehen, deswegen sind sie geblieben.

"Ich habe entschieden diesen Teil von mir zu retten. Den Teil, der die Sonne anblickt und sich erfreut, sich teilen kann, leben kann. Ich fühle mich sehr schuldig, gegangen zu sein. Aber ich musste es tun. Für mich und die Menschen um mich herum."

Kannst du dich noch an den Tag erinnern, an dem du fortgegangen bist?

Es war nicht nur ein Tag, an dem ich fortging. Mein Fortgehen dauerte mehrere Wochen. Ich reiste von Stadt zu Stadt mit dem Startpunkt in Kiew.

Rückblickend ist es interessant für mich zu sehen, mit welcher Überzeugung und Selbstsicherheit ich loszog. Ich wusste, dass ich das Richtige tat für mich selbst. Als ich in Kiew war, dachte ich jeden Tag an die Raketen und hatte Angst um mein Leben. Aber auf der Reise hatte ich nur diesen einen Gedanken im Kopf. Alles ist besser als Krieg. Es kann nur besser werden. Ich werde alles schaffen, ich kann alles schaffen! Wenn ich diesen Weg ausgesucht habe, wird alles gut werden. Sobald ich in Sicherheit bin, kann ich anderen helfen. An einem sicheren Ort kann ich entspannter sein und Energie tanken, um anderen in die Sicherheit zu verhelfen.
Ich hatte Angst, aber ich war mir gleichzeitig sehr sicher mit meiner Entscheidung.

Es war das erste Mal, dass ich wirklich alleine auf mich gestellt war. Auf meinem ganzen Lebensweg war ich immer mit jemandem. Es war immer jemand da, der mir zur Seite gestanden ist. Ich denke es ist eine sehr wichtige Erfahrung für jede Person, auf sich selbst gestellt zu sein, in den dunkelsten Zeiten des Lebens. Jetzt, wenn ich daran zurückdenke, bin ich stolz auf mich. Ich bin stärker, als ich dachte.

Als ich und meine Mutter an der Grenze zu Polen insgesamt 7 h anstehen mussten war ich so müde. Ich war noch nie in meinem Leben so müde. Am Ende hatte ich das Gefühl, meiner Mama Energie und Unterstützung geben zu müssen. Weil sie komplett in Erschöpfung und Trauer aufgelöst war. Ich hatte das Gefühl in diesem Moment die Erwachsene und nicht das Kind zu sein. Diese Erfahrung der Emanzipation aus der Rolle der Beschützten in die Rolle der Beschützenden gab mir ein Gefühl der inneren Stärke, das ich zuvor nicht kannte.

Immer wieder sagte ich mir: «Alles wird besser sein als Krieg.» Es war mein Mantra und half mir Stärke zu finden, um alles durchzustehen.

Was bedeutet es für dich «fortzugehen»?

Für mich war es die Erkenntnis, dass ich mich schlussendlich immer nur auf mich selbst verlassen kann. In manchen Situationen kann dich niemand umarmen, unterstützen oder dich in den Arm nehmen. Manchmal kannst du nicht weinen oder erschöpft sein. Nur du kannst fühlen, was du selbst fühlst. Niemand kann exakt genau das Gleiche empfinden. Selbst wenn die Situation und die Gefühle ähnlich sind, es sind nicht deine. Deswegen bist du selbst stets dein stärkster Halt. Ich fühlte mich zum ersten Mal erwachsen.

Das Schwierigste ist, dass du nichts planen kannst. Alle deine Pläne sind «Bullshit», wenn der Krieg ausbricht. Du kannst nichts tun, du hast keine Kontrolle über das was passiert. Du kannst nur dich selbst kontrollieren. Du kannst nicht beeinflussen, was um dich herum geschieht, aber du kannst dein eigenes Verhalten ändern – und das ist deine Verantwortung.

Zudem habe ich gelernt, mehr auf meine Intuition zu hören. Wenn du keine Zeit hast, Pläne zu schmieden, kannst du Dinge nicht mehr rational oder logisch tun. Du musst nach deinem Gefühl entscheiden. Die Menschen um dich herum werden deine Entschlüsse vielleicht nicht verstehen oder sagen – aber das macht keinen Sinn. Aber du weisst, dass es das Richtige ist für dich. Es gibt dir diese Verbundenheit zu dir selbst. Wenn du diese Verbindung zu dir verlierst, kann das in solchen Situationen bei Entscheidungen sogar dein Leben kosten.

Nach dieser Erkenntnis realisierte ich, dass ich trotz allem nicht allein bin. Es gibt immer Menschen, die helfen – Fremde und total unbekannte. Vor Allem bist da aber immer du selbst, die dir gut zuredet, dich aufrichtet und tröstet.

Wie oft bist du in deinem Leben «fortgegangen»?

Ich habe sehr oft den Platz gewechselt, an dem ich gelebt habe. An dieser Stelle muss ich kurz zählen – Auf mein ganzes Leben bezogen, bin ich ungefähr zehn Mal fortgegangen, denke ich. Das erste Mal bin ich umgezogen, als sich meine Eltern scheiden liessen. Sie haben oft gestritten. Ich erinnere mich an diesen Traum, den ich als Kind immer wieder träumte. In einem Haus zu leben, von dem ich nicht mehr fortgehen muss. Ich habe auch danach sehr oft die Wohnung gewechselt, als ich in die High School ging oder als ich an die Universität ging. Wenn meine Beziehungen zu Bruch gingen und ich von den Familien meiner Ex-Freunde wegzog.

Sehr oft musste ich fortgehen. Ich erinnere mich an die erste Wohnung, in der ich mit meinen Eltern und meiner Familie gelebt. Nach einer Weile kaufte mein Vater eine andere Wohnung und wir zogen um ohne meine Grosseltern. Sie starben und wir kauften die alte Wohnung und vermieteten sie. Ich fragte meinen Vater eines Tages auf der Strasse, ob er diese Wohnung vermisse. Er meinte, ja klar habe ich Erinnerungen an diesen Ort, aber sie schmerzen nicht. Denn das ist das Leben, alles kann sich verändern. Klar sind es wunderbare und kostbare Erinnerungen, aber ich habe jetzt neue Erinnerungen an den neuen Ort, die genauso wertvoll und schön sind. Als Kind idealisiert man alles Vertraute und sieht nicht, dass mit jeder neuen Phase des Lebens, wieder neue schöne Erinnerungen dazukommen. Und auch wenn ich keinen sicheren Anker in Form einer Wohnung oder einem Lebensort habe, solange ich diese Verbundenheit zu mir selbst spüre, weiss ich, dass alles gut wird.

Wenn ich mich gut fühle in mir selbst, kann ich diese Energie weitergeben und sie verbreitet sich. Man kann loslassen, ohne den Schmerz zu behalten. Das ist das Leben, alles verändert sich auch ohne deine Erlaubnis. Vielleicht verlässt dich jemand, dir wird gekündet und du kannst dich nicht darauf vorbereiten – aber du kannst in dieser Situation das Beste für dich herausholen. Wie du mit der Situation umgehst, steht in deiner Macht.

Dasha Kiev Dasha Kiev
Dasha Kiev Dasha Kiev
Dasha Kiev Dasha Kiev

Was bedeutet es für dich «angekommen» zu sein?

Für mich geht es um Veränderungen, um Tests. Wie stark kann ich sein? Es ist wie eine Probe für dich selbst.

Dasha

Breche ich in diesem Moment oder kann ich weitermachen? Kann ich flexibel und mobil sein, nicht nur im physischen Sinne, sondern auch in Bezug auf mein Mindset.

Wie oft bist du in deinem Leben wirklich «angekommen»?

Eigentlich immer, wenn ich fortgegangen bin.

Jedes Mal, wenn du gehst und sich etwas veränderst, solltest du dich anpassen. In den Momenten, in denen ich fortgehe, fühle ich sehr viel Schmerz, aber dann überstehst du ihn. In diesen intensiven Zeiten realisierst du, dass du fühlst – du bist nicht wie ein Stein. Du fühlst dich selbst durch den Schmerz, aber du weisst, du schaffst das. Du wirst weitergehen. Wenn eine Beziehung kaputt geht, wenn deine Eltern sich scheiden, du die Schule wechselst oder keine Freund*innen an der Universität findest, schmerzt es, aber es ist jedes Mal eine wichtige Erfahrung. Wir leben in der echten Welt und nicht im Himmel. Die Lebensaufgabe für Tiere ist das Überleben in dieser Welt. Ich denke für Menschen trifft das auch zu. Wir sollten eine Mission im Leben haben und diese verfolgen. Wir sind viel stärker, als wir annehmen.

Dasha

Bist du hier angekommen?

Ich denke ja. Vielleicht ist es nicht die richtige Antwort, aber hier fühle ich diese Gefühle: Sicherheit, Ruhe und Trost. Für mich ist die Schweiz wie ein*e Ärzt*in der dich untersucht und versteht. «Ah Sie haben dieses Problem. Aber schauen Sie doch bitte in den sicheren Himmel und auf die schönen Blumen – das kann Ihre Therapie sein.» Und du fühlst dich wirklich besser.

Oder die Alltagsmomente, wenn du einen Termin bei der Gemeinde hast, an irgendeinem Schalter und sie lächeln dich an und hören dir zu. Manchmal ist es besser als Therapie, wenn jemand dich anlächelt oder sich die Zeit nimmt dir zuzuhören. Das hilft wirklich. Hier fühle ich mich akzeptiert so wie ich bin. Ich denke einige ukrainische Flüchtende empfinden sehr viel Stress, sie möchten eigentlich ihr Zuhause, dass sie im Heimatland hatten auch hier zurück. Am Schalter reagieren sie aus diesen Emotionen des Stresses heraus. Aber im Büro von ORS, die uns hier beraten und helfen, bleiben sie so ruhig und verständnisvoll und hören wirklich zu. Ich erlebe die Menschen hier so offen.

Falls ja, wie lange dauerte es, um dieses Gefühl zu erlangen?

Ich denke dieser Prozess ist erst ganz abgeschlossen, sobald ich einen Job gefunden habe, mich alleine zurechtfinde und eine Routine habe. Sobald ich weiss, wann ich was erledige (in den Unterricht gehen, arbeiten, wo ich wohne). Sobald ich meinen Alltag hier aufgebaut habe, werde ich im Frieden sein. Auch jetzt schon fühle ich mich sehr wohl hier. Aber ich habe immer im Hinterkopf, dass ich mich integrieren sollte, einen Job und eine Wohnung finden. Sobald ich das geschafft habe, werde ich aufatmen können.

Dasha

Was erschwerte diesen Prozess?

Ich habe manchmal Angst vor den Regeln hier. Ich kenne nicht alle Regeln in der Schweiz sowohl die offiziellen als auch die ungeschriebenen Sozialen Gesetze. Ich frage mich oft, mache ich das so richtig? Kann ich das Licht nach 22 Uhr noch anlassen zum Beispiel? Wie verhalte ich mich richtig? Ich bin sehr bedacht darauf, keine Fehler zu machen, weil ich mich sehr dankbar fühle, weil dieses Land uns sehr viel gegeben hat. Ich möchte mich nicht falsch verhalten, ich möchte danke sagen. Aber ich kenne die Regeln noch nicht gut genug.

Dasha

Auch der Gedanke, dass ich noch keinen Job habe. Ich habe so viel studiert und gearbeitet, um einen guten Beruf ausüben zu können. Hier fühle ich mich auf den Status null zurückgesetzt. Auch wenn ich immer noch an meine professionellen Fähigkeiten glaube (in der Ukraine arbeitete ich als Fotografin und Psychotherapeutin), muss ich mich hier zuerst beweisen. Ich verspüre diesen Druck, so schnell wie möglich eine Arbeit zu finden, um unabhängig zu werden, eine eigene Wohnung mieten zu können.

Ausserdem wünsche ich mir stark, dass mein Freund eines Tages hierherkommen oder ich in die Ukraine zurückgehe kann. Da ist immer noch dieses Schuldgefühl in Bezug darauf gegangen zu sein. Ich möchte etwas zurückgeben. Ich möchte nicht mehr länger nehmen, ich möchte in der Lage sein, zu geben. Auch wenn mich niemand hier blöd ansieht oder mich blöd anmacht, fühle ich mich schuldig. Eben genau, weil mir so viel gegeben wird. Beziehungen sollten immer ausbalanciert sein. Du gibst mir, ich gebe dir.
Aber die Familie, die mich hier aufgenommen hat, hilft indirekt auch anderen. Sie geben mir Energie und ich kann kostenlose Therapiesitzungen machen für meine ehemaligen ukrainischen Klient*innen über Telegram. Ich habe wieder Energie und ich kann sie auf meine Klient*innen übertragen. Wie ein Stein, der ins Wasser fällt und dessen Aufschlag immer grössere Kreise wirft.

Was hat ihn dir erleichtert?

Es gab diesen Moment, als Annemarie meine Gastgeberin mich bat, meine Kleider in die Garderobe zu hängen. Solange du deine Sachen in der Tasche hast, befindest du dich immer noch in einem Zustand des Stresses. Es gibt diese kleinen Dinge jeden Tag, die mir das Gefühl geben, dass es mein Leben ist. Das ich nicht mehr das Mädchen auf der Flucht bin. Zum Beispiel mein Make-up aufzutragen. Meine Familie hat mir meine Parfums zugeschickt. Mit diesen Düften verbinde ich viele Erinnerungen an meinen alten Alltag. Wenn ich mein Parfum auftrage, habe ich das Gefühl: «Okay, dieses Leben ist meines. Das ist mein Leben».

Welches ist die schönste Erinnerung, die du hier erlebt hast?

Das erste Treffen mit Svenia, meiner Gastschwester. Als ich im Bus in die Schweiz fuhr war ich krank und in sehr schlechter Verfassung. Ich wartete an dieser Bushaltestelle, wie ein obdachloser, kranker Hund. Ich roch schlecht. Bevor ich wegging, hatte die Katze meiner Mutter auf meine Reisetasche gepinkelt und ich konnte meine Kleider danach die ganze Zeit nicht waschen. Ich habe mich sehr geschämt. Aber sie kam zu mir und sie hat mir eine grosse Tasche mit Schokoladen, Orangen, Bananen, Reiswaffeln und vielem mehr gebracht. Dann ging sie mit mir zum Corona-Schnelltest und ich war positiv. Daraufhin schämte ich mich noch mehr. Ich fühlte mich, wie ein hilfloses Tier mit Flöhen, aber jemand nahm mich mit nach Hause und kümmerte sich um mich. Zuhause war ich unabhängig, hatte meinen Job, mein Zuhause. In dieser Situation brauchte ich zum ersten Mal Hilfe und ich bekam sie.

Dasha

Welches die schlimmste?

Als ich in der Schlange stand, um meine Dokumente aufzusetzen. In derselben Schlange standen einige ukrainische Mädchen mit einem Mann an. Die Mädchen redeten wild durcheinander und der Mann begann nebenbei mit mir zu sprechen. Er machte Witze darüber, dass wir angeben könnten, verheiratet zu sein. Er begann mich anzufassen und meinte, wir sollten zusammen weggehen. Er hätte eine schöne Wohnung hier. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber die Situation war sehr unangenehm. Er nahm mein Dokument und las meine persönlichen Informationen. Ich war sprachlos. Wenn ich jetzt nochmals in dieselbe Situation zurückversetzt wäre, würde ich aggressiver reagieren. Anschliessend war ich sehr beschämt über mein Schweigen. Aber in dieser Situation habe ich mich nicht getraut. Vielleicht kommt das jetzt falsch herüber und wird von einigen missverstanden, aber die schlimmste Erinnerung habe ich nicht an Schweizer*innen sondern an einen ukrainischen Mann.

Welche Geräusche verbindest du mit diesem Ort hier?

Vielleicht ist es kein echtes Geräusch, aber für mich ist es die Frage: «Wie war dein Tag?» Ich habe den Eindruck, hier sind alle interessiert am Leben der Anderen. Mich überkommt jedes Mal dieses warme Gefühl, wenn ich mit meinen neuen Freund*innen hier über mein Leben spreche und nicht geurteilt wird. Alle hören zu und sind interessiert. Das ist für mich das Geräusch, das hier gute Beziehungen symbolisiert. Richtiges Interesse, keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben anderer.

Und das zweite Geräusch ist unser Lachen. Wenn wir gemeinsam zusammen über etwas lachen können. Das ist pure Lebensfreude!

Dasha
Dasha
Dasha

Muss man zuerst fortgehen, um irgendwo anzukommen?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Persönlich denke ich ja. Nur wenn deine Pläne durcheinandergeraten, findest du diese Beziehung zu dir selbst. Wenn alles nach Plan läuft, entscheidest du nur logisch. Wenn deine Pläne nicht aufgehen, musst du dich fragen, was du wirklich willst im Leben. Du beginnst aus dem Bauchgefühl heraus zu entscheiden. Zum Beispiel wollte ich ursprünglich nach Köln. Aber an der polnischen Grenze habe ich mich aus dem Bauch heraus entschieden, in den Bus in die Schweiz einzusteigen. Ich habe einfach gespürt, dass es das Richtige ist. Es ist dasselbe mit Beziehungen, wenn du beispielsweise deine Eltern oder deinen Freund verlässt, verstehst du mehr über dich selbst und darüber was du willst. Durch meine Erfahrungen hier, weiss ich jetzt besser, welche Zukunft ich mir mit meinem ukrainischen Freund wünsche. Die Flucht hat mich stärker gemacht und gibt mir eine starke Basis für alles, was noch kommt. Ich werde viele Europäische Erfahrungen in mir mittragen und in meine Lebensweise verflechten.

In Bezug auf den Krieg in meinem Heimatland:
Ich möchte das Geschehen nicht verharmlosen oder idealisieren – die Situation ist schrecklich. Aber ich versuche das Positive und die Hoffnung darin zu sehen.
Wenn unsere Städte zerbombt sind, können wir alles neu aufbauen. Viele Architekt*innen sind bereits hochmotiviert dabei, Pläne zu schmieden, um sie wieder aufzubauen. Die Regierung und das Volk fragen sich jetzt, wie können wir wiedergeboren werden?

Kannst du dir vorstellen, noch einmal fortzugehen?

Ich denke ja, ich sollte neue Erfahrungen sammeln. Aber ich habe meinen Traum, eine Familie zu gründen. Ich bin trotz allem eine Ukrainerin. Ich träume von all diesen Sachen wie einem sicheren Haus, aus dem ich nicht weggehen muss. Fast so, wie in meinem Kindheitstraum. Aber ich möchte zurückkommen können. Weggehen, aber mit der Möglichkeit zurückzukommen. Wo wir leben werden, weiss ich nicht. Wenn wir in Kiew leben können, wäre das super. Aber schlussendlich reicht es mir, wenn mein Freund bei mir ist. Denn er ist mein Zuhause.

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